Das Lederwarenhandwerk – eine neue Chance für die beiden Bauerndörfer

Obertshausen einst – Die Chronik der Stadt Obertshausen – Teil 1

von Fabian Bleisinger

Obertshausen (red) – Das Leben der Einwohner von Obertshausen und Hausen war im 19. Jahrhundert vor allem von Armut geprägt. Die Landwirtschaft brachte auf den schlechten heimischen Böden nur spärliche Erträge. Gerade Anfang des 19. Jahrhunderts, als unsere Region unter Einfluss Napoleons stand, häuften sich Missernten und die Bevölkerung litt Hunger. Ein Auskommen außerhalb der Landwirtschaft war so gut wie nicht in Sicht. 1811 endete im Großherzogtum Hessen die Leibeigenschaft. Jedoch mussten die Einwohner unserer beiden Gemeinden die ehemaligen Grundherren – allen voran die Schönborner Grafen und das fürstliche Haus Isenburg-Birstein –finanziell entschädigen; eine Schuld, die über rund drei Jahrzehnte mühsam abgetragen wurde.

In der neuen Chronik der Stadt Obertshausen, die der Heimat- und Geschichtsverein Obertshausen e.V. im Jahr 2018 herausgegeben hat und die seit Mai 2019 in zweiter Auflage im örtlichen Buchhandel erhältlich ist, wird die Perspektive, die durch die Offenbacher Manufakturen v.a. des Lederwarenhandwerks ermöglicht wurde, beschrieben: „Diese trostlose Situation auf dem Dorf dürfte mit dazu beigetragen haben, dass ab den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts die Attraktivität der Offenbacher Industrie ihre Wirkung auch auf die Obertshausener ausübte. Die verschiedenen Offenbacher Industriezweige wie Hut-, Schuh-, Filz- und auch Zuckerfabriken sowie Schriftgießereien und vor allem das Lederwarenhandwerk förderten nicht nur das Wachstum Offenbachs, sondern schienen vielen Obertshausener und Hausener Bauernsöhnen eine Perspektive zur Bestreitung ihres Lebensunterhaltes zu bieten.“ Wurden zunächst vor allem Kleinlederwaren hergestellt, erweiterte die lokale Lederwarenbranche um 1880 ihr Programm um Aktentaschen und Koffer sowie ab 1900 auch um Damenhandtaschen. Der Bedarf und die in Offenbach erworbenen Fähigkeiten veranlassten viele Portefeuiller aus Obertshausen und Hausen, ein Zwischengewerbe für die Offenbacher Betriebe anzumelden und fortan in Heimarbeit zu produzieren. Das stundenlange Pendeln zu Fuß nach Offenbach, wo in den Manufakturen von Montag bis Samstag etwa zehn bis zwölf Stunden am Tag gearbeitet wurde, entfiel damit. Außerdem konnten jetzt auch ältere Familienmitglieder, für die der tägliche Weg nach Offenbach zu anstrengend gewesen wäre, in die Produktion mit einsteigen. Der Umbruch im Erwerbsleben der Menschen aus Obertshausen und Hausen war gewaltig und hatte großen Einfluss auf die dörflichen Strukturen. In der Chronik heißt es dazu: „Ab etwa 1890 ist für Hausen belegt, dass fast alle Schulabgänger den Beruf des Portefeuillers erlernen. In Obertshausen wird es nicht anders gewesen sein. Ein Auszug aus der Steuerliste 1892/93 weist für Hausen mit 15 Landwirten, zwei Knechten, zwei Milchhändlern, zwei Korbmachern und einem Viehwirt nur noch wenige direkt oder indirekt mit der Landwirtschaft Beschäftigte aus. Dem gegenüber stehen unter anderem 63 Fabrikarbeiter, 43 Portefeuiller, 17 Gürtler, sieben Gerber, zwei Etuiarbeiter, zwei Gold- und Silberarbeiter und ein Elfenbeingraveur. Darüber hinaus gibt es natürlich noch Metzger, Bäcker, Lehrer, Schneider, Schlosser, Gastwirte und viele weitere Berufe. Aber die neue Entwicklung weg von der Landwirtschaft und hin zu den verarbeitenden und produzierenden Gewerben ist offensichtlich.“ Dieser Wandel sollte auch für die Geschichte der späteren Stadt Obertshausen noch eine gravierende Rolle spielen. Denn nach den verheerenden Weltkriegen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war es vor allem das Lederwarenhandwerk, das der Bevölkerung eine Perspektive für die Zukunft eröffnete. Damals brachte der Boom des Lederwarenhandwerks in der jungen Bundesrepublik der Aufbaujahre großen Wohlstand in die zwei damals noch selbstständigen Orte Obertshausen und Hausen. Zusammen mit den beiden prosperierenden Industrieunternehmen Jakob Wolf/YMOS und Karl Mayer sorgte das Lederwarenhandwerk maßgeblich dafür, dass Ende der 1960er Jahre Obertshausen und Hausen als die reichsten Gemeinden in Deutschland galten.

Jedem, der sich für die bewegende Geschichte unserer Heimatstadt von der Frühzeit bis ins Jahr 2018 interessiert, sei das Buch „Unser Obertshausen – eine Zeitreise durch unsere Heimat“ ans Herz gelegt. Diese aktuelle 336 Seiten starke Chronik, die mit mehr als 400 Abbildungen und Grafiken anschaulich bebildert ist, ist in Obertshausen beim BücherTreff und in Hausen bei der Buchhandlung Henzler, bei Hoffmann-schreiben-spielen-schenken und beim Jäger-KFZ-Service (ARAL) erhältlich.

Auch im Werkstattmuseum „Karl-Mayer-Haus“ in Obertshausen kann das Buch während der Öffnungszeiten oder im Rahmen der dortigen Veranstaltungen erworben werden.

Die Belegschaft der Firma Picard um 1910, die damals in der Lämmerspieler Straße ansässig war. Auf dem Bild hinten stehend: Anna Maria Picard, geborene Malsy, Daniel Picard (Inhaber der Firma). Sitzende Gruppe von links: Elisabeth Picard, geborene Kopp, Valentin Kopp, Jacob Keller, Philip Hofmann, Johann Komo. Die Damen auf der rechten Seite: Magdalena Pirot, Eleonore Komo und Kunigunde Klohoker.
Die Belegschaft der Firma Picard um 1910, die damals in der Lämmerspieler Straße ansässig war. Auf dem Bild hinten stehend: Anna Maria Picard, geborene Malsy, Daniel Picard (Inhaber der Firma). Sitzende Gruppe von links: Elisabeth Picard, geborene Kopp, Valentin Kopp, Jacob Keller, Philip Hofmann, Johann Komo. Die Damen auf der rechten Seite: Magdalena Pirot, Eleonore Komo und Kunigunde Klohoker.

Hans Vetter mit Ehefrau in seiner Werkstatt um 1940.
Hans Vetter mit Ehefrau in seiner Werkstatt um 1940.