23. Oktober 2018

Chronik-01: Vor- und Frühgeschichte

Chronik der Stadt Obertshausen von 1993
Obertshausen und Hausen im Strom der Zeit

Vor- und Frühgeschichte in Obertshausen und Hausen

von Historiker Dr. Jörg Füllgrabe

Die geographischen Rahmenbedingungen:

Die Stadt Obertshausen befindet sich im Ostteil des Kreises Offenbach und hat die geographischen Daten 8° 51′ östliche Länge und 50° 04′ nördl. Breite. Die durchschnittliche Höhe über Meeresniveau beträgt 112 Meter. Mit diesen punktuellen Daten allein ist es jedoch nicht getan.

Obertshausen liegt in einem Randgebiet der sogenannten Oberrheinischen Tiefebene, einer Ebene also, die – wie der Name schon deutlich macht – durch das Bett des Rheins entstanden und geprägt worden ist. Im Gegensatz zu moderner politischer Praxis waren Flüsse in alten Zeiten niemals „natürliche Grenzen“ sondern wurden immer als Verkehrswege genutzt. Wenn auch zunächst nur mittelbar, war damit die Einbindung unserer Region in die großen Verkehrsadern der europäischen Geschichte vorgegeben. Vor allem aber bot sich die Region bereits relativ früh als Siedlungsraum für die Menschen an.1)

Obertshausen ist in einer Ebene gelegen, die im Südwesten bis an den „Hexenberg“ reicht. Geologisch geprägt von permischem Rotgestein, das quasi das Abfallprodukt von Gebirgen darstellt, die längst vom Antlitz unserer Erde verschwunden sind, war es im Laufe der Millionen von Jahren währenden Erdgeschichte natürlich weiteren Veränderungen ausgesetzt. In der frühen Erdneuzeit, genauer gesagt im „Tertiär“, wurde die rote Masse durch Ablagerungen von Kalk, Sand und Ton überdeckt.

Diese Einlagerungen von Ton prägten das Landschaftsbild insofern, als sie das Abfließen von Wasser verhinderten. Teilweise entstanden weiträumige Sumpfgebiete, durch die sich im „Quartär“, dem jüngsten Abschnitt der Erdneuzeit, der neuentstandene Main sein Bett suchte. Durch die Fließbewegungen des Gewässers wurden die sogenannten Mainsande und Mainkiese aufgeschüttet, die sich in der sogenannten „Seligenstädter·Senke“ sammelten.

Eingebettet zwischen Rhein und Main bilden die Gebirge Taunus, Spessart und in geringerem Maße – der Odenwald eine Barriere gegen extreme Wetterbewegungen, die sich meistens als Wetterwidrigkeiten äußern. Dadurch liegt Obertshausen klimatisch relativ günstig.

In diese Rahmenbedingungen hat sich die Vegetation – ohne menschliche Eingriffe bestünde hier vornehmlich ein Eichen-Birkenwald – eingepasst. Nur in den durch Toneinlagen vorkommenden Staunässegebieten herrschten Erlenbruchwälder vor.

Die Einführung von Lärchen, Fichten, Buchen und Kiefern erfolgte erst später durch den Menschen. Trotz der klimatischen Gunst ist es um die Bodenbeschaffenheit etwa im Vergleich zum wesentlich fruchtbareren Dreieichgebiet -nicht so gut bestellt. Die Wiesen leiden entweder unter der Staunässe oder befinden ich auf dem nährstoffarmen Sandboden. Auch die Qualität der Äcker ist nicht übermäßig gut, was sich im Anbau von Kartoffeln und Roggen als Hauptnutzpflanzen niederschlägt.

Dennoch ist es nicht so, dass die Region um Obertshausen eine Extremlage eingenommen hätte. Die mittelpaläolithischen Funde von Lämmerspiel deuten darauf hin, dass sehr  früh bereits menschliche Gruppen als Jäger und Sammler dieses Gebiet durchzogen und dabei kaum an der Gemarkungsgrenze  von  Obertshausen haltgemacht, sondern auch das Gebiet dieser Stadt durchzogen haben werden. Auch aus späterer  Zeit menschlicher Geschichte, die nicht denkbar ist ohne die ihr von der Natur gelieferte „Kulisse“, finden sich Spuren im Obertshausener Raum. Davon soll in dieser Chronik eingehend die Rede sein.

Anmerkungen:

1) vgl. dazu und zum Folgenden: Bürgerjahrbuch 1991/92, S. 17; F. R. Herrmann/A. Jockenhövel, Die Vorgeschichte Hessens, S. 15ff.; H. Gries, Frühe Spuren, S. 12ff.; H. Kahl, Zwischen Einst und Jetzt, S. 9ff.; J. Seuffert, Unser Hausen; S. 96f.

Obertshausen und Hausen in vor- und frühgeschichtlicher Zeit

Die menschliche Geschichte ist -wenn sie auf gewisse Faktoren abstrahiert wird – vor allem auch eine Geschichte technologischen  Fortschritts. Dementsprechend ist es auch konsequent, dass mit der Renaissance ältere Geschichtsbilder, die auf einer inneren Entwicklung basierten, verstärkt zugunsten einer rationalen Betrachtung verdrängt wurden. Die „neue“ Geschichtsbetrachtung setzt an den Anfang der Geschichte die Steinzeit, die sich in die drei Abschnitte Alt-, Mittel und Jungsteinzeit bei einer wiederum dreigeteilten Alt- und einer sogar in vier Sektionen aufgeteilten Jungsteinzeit – untergliedern lässt. Den Steinzeiten folgen die sogenannten „Metallzeiten“, die Bronze- und die Eisenzeit. Am Ende der Eisenzeit wird für Mitteleuropa mit der Expansion des römischen Imperiums der schriftlose – also eigentlich „vorgeschichtliche“ – Rahmen verlassen, mit der folgenden Schriftlichkeit beginnt die „Geschichte“.

In den frühen Phasen menschlicher Geschichte bzw. Vorgeschichte ist diese nicht nur ein Phänomen technologischen oder kulturellen Fortschritts, sondern vor allem auch der biologischen Entwicklung. Die Anfänge der Menschwerdung und damit auch der menschlichen Geschichte liegen im Dunkeln. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Wiege der Menschheit in Ostafrika gestanden hat, ist sehr hoch, wenngleich aufgrund der großen Fundlücken dieser Aussage. absolute Sicherheit nicht gegeben werden kann.

Ob der Weg zum modernen Menschen in direkter Linie zurück nach Afrika führt oder ob es mehrere Entwicklungszentren gegeben hat, die biologische Entwicklung der Menschheit ging ausschließlich in der Altsteinzeit vor sich.

Dabei kann grob jede der drei Altsteinzeiten mindestens einem Menschentypen zugeordnet werden. Die älteste Altsteinzeit ist das Zeitalter der sogenannten Vormenschen, deren Endentwicklung der sogenannte „Homo erectus“ – der aufrechtgehende Mensch – ist. Die mittlere Altsteinzeit ist die Epoche Altmenschen, des „Neandertalers“ und erst mit dem Jungpaläolithikum ­ der letzten Phase der Altsteinzeit – tritt der heutige Mensch – der „Homo sapiens sapiens“, der „Vernunftbegabte“ – auf den Plan.1)

Naturgemäß sind Funde seltener, je weiter die entsprechende Zeit zurückliegt. Das ist allein durch zeitbedingte Faktoren begründet. Je länger ein Gegenstand im Boden liegt, desto größeren Zersetzungserscheinungen ist er ausgesetzt. Daher sind Funde aus der Altsteinzeit im Allgemeinen und der ältesten Phase dieser Zeit im Besonderen weltweit äußerst selten und demgemäß auch für den Obertshausener Raum kaum zu erwarten. Im niederhessischen Raum gibt es nun in der Tat Funde, die in die Zeit des „Homo erectus“ zurückreichen.2) Hier im Rhein-Main-Gebiet sind solche sensationellen Funde allerdings noch nicht gemacht worden.

Umso bemerkenswerter ist der Fund der sogenannten „Lämmerspieler Artefakte“, grob bearbeiteten Steinen, die lange Zeit generell als Fälschungen angesehen wurden und von denen mittlerweile zumindest einige Stücke in ihrer Echtheit bestätigt sind. Bei diesen „Artefakten“ handelt es sich um aus Chalzedonknollen hergestellte Abschläge bzw. den Abfallprodukten der Steingeräteherstellung. Chalzedon hat ähnliche Eigenschaften wie Feuerstein und war aus diesem Grunde für die Herstellung von Steinwerkzeugen durchaus geeignet.

Die Lämmerspieler Artefakte“ verweisen in die Frühzeit der Menschheit, die Phase des sogenannten „Mittelpaläolithikums“, der Zeit der Neandertaler. Die Tatsache, dass sie auf Lämmerspieler Gebiet gemacht wurden, lässt die Vermutung sehr wahrscheinlich erscheinen, dass auch im Raum Obertshausen sehr frühe Menschenformen heimisch waren.3) Inwieweit diese Zeugnisse früher menschlicher Anwesenheit allerdings den Schluss einer kontinuierlichen Besiedlung auch des Obertshausener Gebietes zulassen, ist nicht ohne Weiteres zu entscheiden, einerseits aus Mangel an Fundmaterial, andererseits, weil über die Lebensweise unserer frühen Vorfahren zwar schlüssige aber doch nur spärliche und indirekte Aussagen zu treffen sind.

Fest steht, dass in der Altsteinzeit – dieser mit nahezu zwei Millionen Jahren Dauer längsten Phase der menschlichen Geschichte die (über-)Lebensbedingungen zwar deutlichen Schwankungen unterworfen waren, es gab ja auch in Europa sowohl Warm- als auch Kaltzeiten, grundsätzlich die Lebensgrundlagen aber gleich blieben.

Die Menschen lebten von der Jagd und vom Sammeln essbarer Wurzeln und Früchte. Das Feuer war zwar in den Dienst der Menschen gestellt worden, Keramik und Häuser in modernem Sinne waren jedoch nicht bekannt. Dies änderte sich prinzipiell auch während der mittleren Steinzeit nicht, wenngleich es gerade in diesem Zeitabschnitt zu technologischen Neuerungen und teils hochspezialisierten Lebensformen kam.

Es ist sicherlich grundsätzlich nicht so, dass – wie oft behauptet wird – diese frühe Form der Wirtschaft keine Eingriffe in die Natur mit sich gebracht habe, allerdings können die entsprechenden Auswirkungen aufgrund der niedrigen Siedlungsdichte als im Großen und Ganzen vernachlässigbar angesehen werden. Die passive Form der Nahrungsbeschaffung – die sogenannte „aneignende Lebensweise“ – veränderte das Bild der Landschaft nicht wesentlich. Der Mensch lebte auch damals sicherlich weniger im Einklang mit der Natur als vielmehr im Kampf gegen sie, jedoch waren die Kräfte der Umwelt so stark, dass menschlicherseits kaum an Veränderung geschweige denn Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen zu denken war.

Das änderte sich erst, als – auch für Europa relevant im 9. vorchristlichen Jahrtausend im Gebiet des „Fruchtbaren Halbmondes“ frühe Formen von Ackerbau und Viehzucht entwickelt wurden, die einhergingen mit einer relativen Sesshaftigkeit, mit Hausbau und der Entwicklung von Keramik – also Tongefäßen. Dieses Zeitalter, das „Neolithikum“, die Jungsteinzeit, brachte überdies neue Kenntnisse der Steinbearbeitung mit sich, in deren Folge – es handelt sich in erster Linie um die Entwicklung von Beilen und Äxten Eingriffe in den Waldbestand möglich waren.4)

Obgleich auch hier der Begriff der „neolithischen Revolution“ nur bedingt korrekt ist, es handelte sich bei der Entstehung dieser Kulturerrungenschaften eher um eine Evolution, wird in diesem Terminus das vollkommen Neue deutlich, dass in dieser Epoche geschah. Die Menschen schwangen sich in Folge zu Meistern über die Natur auf, die aufgrund ihrer fortschreitenden Technologien in der Lage waren, irreversible Eingriffe in ihre Ökosphäre vorzunehmen.

Zunächst waren die Eingriffe natürlich noch äußerst gering, durch die Verwendung von Steinbeilen ließen sich noch keine extrem weitgreifenden Veränderungen in der Waldstruktur bewirken. Dennoch war durch den steigenden Bodenverbrauch – hervorgerufen durch Bevölkerungswachstum – der Waldverlust vorprogrammiert.

Da die neolithischen Kenntnisse vermutlich mit der Bevölkerung durch Wanderungen aus dem Bereich des „Fruchtbaren Halbmondes“ über den Balkan nach Mitteleuropa gelangten, sind die Erzeugnisse der ersten jungsteinzeitlichen Kulturgruppe, der sogenannten „Linearbandkeramischen Kultur“ sehr einheitlich. Erst im Verlauf der Jungsteinzeit trat eine Differenzierung in kleinere kulturelle Einheiten auf, die sich heute an der Verschiedenheit des Fundgutes erkennen lassen.

Gegen Ende der Jungsteinzeit kam es zu einer Erweiterung der Technologie, die es den Menschen ermöglichte, Metalle zu bearbeiten. Die ersten Versuche in dieser Richtung wurden mit Kupfer und – erstaunlicherweise – Gold unternommen. Der Vorteil bei der Bearbeitung beider Metalle liegt in ihrer relativ weichen Konsistenz, die es ermöglicht, sie ohne den Einfluss höherer Temperaturen, also „kalt“, zu bearbeiten. Trotz der frühen Belege für die. Bearbeitung von Gold ist es keineswegs so, dass dieses Edelmetall als alltäglicher. Werkstoff diente; die Ausnahmestellung, die Gold bis heute innehat, war -sicherlich bereits damals gegeben. Kupfer hingegen fand auch als Material zur Werkzeug- und Waffenherstellung Verwendung.5) Dabei wurde der Vorteil der leichten Bearbeitungsmöglichkeit sehr schnell zum Nachteil: Kupfer war zu weich. Erst durch die Legierung – hauptsächlich mit Zinn – war an eine ausgedehntere Verwertbarkeit von Kupfer als Werkstoff zu denken. Die Legierung des Kupfers gab einem neuen Zeitabschnitt einen Namen: der Bronzezeit.6)

Diese erste der sogenannten „Metallzeiten“ – benannt nach der Verarbeitung von Metallen zu Waffen und Werkzeugen – dauerte in Mitteleuropa von ungefähr 2400 v. Chr. bis 800 v. Chr. Da sich die kulturellen Kennzeichen während der Bronzezeit wandelten, wird die Epoche in drei größere Abschnitte unterteilt. Die frühe Bronzezeit ist gekennzeichnet durch eine Art Experimentieren mit der neuen Legierung. In der mittleren Bronzezeit herrschte ein souveräner Umgang mit den Materialien. Äußerlich ist diese Phase in unserer Region an ihren Grabsitten erkennbar; herausragende Tote wurden in Grabhügeln bestattet, woraus sich die Bezeichnung als „Hügelgräber-Bronzezeit“ ableitet.

Die dritte Periode der bronzezeitlichen Entwicklung nach der Sitte der Brandbestattung auch als „Urnenfelderzeit“ benannt – ist durch großangelegte Wanderungsbewegungen gekennzeichnet, die unserer Region allerdings nur peripher berührten. Mit dem Aufkommen des Schwertes jedoch, das sich aus den bereits im Rahmen der früheren bronzezeitlichen Technologiestadien bekannten Dolchen entwickelte, sowie der vorerst vereinzelten Verwendung von Eisen zunächst als Schmuckmaterial, ist die Entwicklung hin zu einer weiteren Stufe der Metallzeiten beschritten, der Eisenzeit.7)

Die Eisenzeit wird von den Vertretern der Wissenschaft wiederum in zwei Untereinheiten aufgeteilt: Die ältere Eisen- oder „Hallstattzeit“, die jüngere Eisen- oder „Laténezeit“. Der ältere eisenzeitliche Abschnitt dauerte von 800 bis etwa 450 v. Chr., der jüngere von 450 v. Chr. bis etwa Christi Geburt.

An dieser Stelle angemerkt, dass aus einsichtigen Gründen -die uns zeitlich näher liegenden Zeiten bieten grundsätzlich ja die Chance besseren Erhaltungszustandes – die Kenntnisse über die jüngeren Epochen der menschlichen Entwicklung deutlich umfassender sind, als es im Fall der Frühstadien menschlicher Entwicklung der Fall ist. Allerdings gibt es außer diesen eher von außen, durch die Möglichkeiten der Forschung bestimmten, Rahmenbedingungen auch Gründe für die gestiegene Genauigkeit der Kenntnisse, die in der inneren Entwicklung bedingt sind: Die Fähigkeit der Menschen, neue Techniken zu erfinden und einzusetzen stieg im Laufe der Entwicklung der Menschheit. Dies führt einerseits dazu, dass die neuen Technologien die Einteilung in nach ihnen benannten Zeitabschnitten in immer kürzeren Abschnitten erfordern, andererseits aber auch dazu, dass es in einer technisch adäquaten Zeitstufe zu einer Unterteilung in regionale Kulturen kommt.

Obwohl hier nicht der Ort ist, den aktuellen Forschungsstand zu diskutieren sei ein kurzer Verweis darauf erlaubt, dass sich der Forschungsansatz insofern grundlegend geändert hat, dass im Gegensatz zu früheren Auffassungen die Kontinuitäten der Entwicklungen in den Vordergrund gestellt werden und nicht so sehr die Differenzen. Mit anderen Worten: Der Übergang etwa von der Jungstein- zur Bronzezeit, von der Bronze- zur Eisenzeit und auch die Wandlungen innerhalb dieser zeitlichen Großeinheiten werden mittlerweile eher unter einem evolutionären Gesichtspunkt betrachtet. Diese Sicht der Dinge konzentriert sich also vielmehr auf die kulturellen Übereinstimmungen als auf die entsprechenden Unterschiede, ein Ansatz, der den tatsächlichen Entwicklungen wahrscheinlich auch eher gerecht wird, als dies eine Heraushebung der formal ­ kulturellen Unterschiede sein kann.

Dies gilt insbesondere auch für den Wechsel von der älteren zur jüngeren Eisenzeit. Hatte die ältere Forschung hier einen deutlichen Bruch vermutet, mehren sich die Hinweise dafür, dass es sich hierbei eher um einen kontinuierlichen Übergang gehandelt hat. Nicht unwichtig ist die Betrachtung gerade dieser Übergangsphase deshalb, weil mit der jüngeren Eisenzeit für unsere Region erstmals der eigentlich vorgeschichtliche Bereich verlassen wird. Die Träger der „Laténe“-Kultur sind uns aus antiken Quellen namentlich bekannt, es handelt sich dabei um die verschiedenen Völkerschaften der Gallier oder Kelten.8)

Die Tatsache, dass antike Quellen uns diese Namen überliefern, deutet darauf hin, dass die antike Welt zunächst die Griechen, später vor allen Dingen die Römer – irgendwie geartete Kontakte zu diesen als „barbarisch“ bezeichneten Völkerschaften gehabt haben müssen. Vor allem im Fall der Römer lässt sich die Art dieser Kontakte näher bestimmen – neben Handelsbeziehungen waren dies vor allem kriegerische Konflikte. Dabei mussten sich die Kelten einerseits mit den Römern, andererseits aber auch mit germanischen Verbänden, die nach Süden drängten, auseinandersetzen. Zwischen diesen beiden Blöcken zerrieben, war das Schicksal der Kelten rasch besiegelt.

Der römische Expansionsdrang wurde durch die Unterwerfung der Kelten allerdings nicht zufriedengestellt. Die weitaus größere Auseinandersetzung erfolgte mit den Germanen. In dieser etwa ein halbes Jahrtausend andauernden Phase sah es zunächst so aus, als sollten die Römer aufgrund ihrer besseren Organisation und höheren Kulturstufe die Oberhand behalten. Germanien wurde zu einem großen Teil, aber nicht ganz erobert. Mit dem Scheitern der ehrgeizigen Pläne, die das Imperium bis an die Eibe und möglicherweise darüber hinaus vorgeschoben hätten, war auch die Möglichkeit vertan, die Germanen als Aktivposten der Geschichte auszuschalten.

Die römischen Grenzanlagen, der Limes und die Kastelle des Hinterlandes, waren letztlich Defensivmaßnahmen, denen auf Dauer keine Zukunft beschieden war. Dennoch hatte die Zeit der römischen Besatzung nachhaltigen Einfluss auf die Entwicklung auch und gerade in unserer Region. Es ist auch eine falsche Vorstellung, davon auszugehen, dass nur kriegerische Kontakte stattgefunden hätten, bzw. dass nur Befestigungsanlagen erbaut worden seien. Die ausgedehnten Zivilsiedlungen und Villenanlagen, Nebengebäuden, Gutshöfe mit den entsprechenden deuten die friedlichen Kontakte an, die von ihrer Ausdehnung her länger andauerten, als es bei den kämpferischen Zeiten der Fall war. Durch die Wirren der germanischen Völkerwanderung jedoch wurde die römische Herrschaft in unserer Region zerschlagen, neue Verhältnisse setzten sich durch. Als deren Ergebnisse können die Verlagerung der politischen Machtzentren aus dem Mittelmeerraum          in den Norden und somit letztlich die Gründung der – in mehr oder minder veränderten Form bis heute bestehenden – Nationalstaaten angesehen werden.9)

Im Zuge der Einbeziehung unserer Region in den Bereich der römischen Grenzsicherung muss die Einrichtung von am Mainbogen liegenden Kastelle mit Dieburg als Hauptort angesehen werden. Für unsere engere Nachbarschaft wären dies die Kastelle in Seligenstadt und Hainstadt. Das einzige urbane Zentrum der Großregion war Dieburg, wobei es jedoch Funde gibt, die auf größere Gutshöfe schließen lassen. Zu verweisen sei hier auf die Funde von Seligenstadt, Mühlheim, Dietesheim, Offenbach und den heutigen Offenbacher Vorort Bieber.10)

Diese Erkenntnisse beruhen, das wurde oben bereits angedeutet, auf den Ergebnissen, die anhand von Bodenfunden gewonnen werden konnten. Schriftliche Quellen, aus denen wir Detailwissen beziehen könnten, existieren für diese alten Zeiten nicht. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass die Grundlagen dieser Informationen mit einem gewissen Vorbehalt angesehen werden müssen und dies in mindestens zweierlei Hinsicht: Zum einen muss damit gerechnet werden, dass vieles von dem, was von Menschen dieser Zeiten benutzt wurde, im Laufe der Zeit – durch welche Einwirkungen auch immer – zerstört wurde, zum anderen befindet sich wahrscheinlich noch etliches an unzerstörtem Material im Boden und ist einfach noch nicht gefunden worden. Für die zweite Gruppe besteht überdies die Gefahr, dass Unzerstörtes in unseren Tagen noch zerstört wird und damit der Forschung entgeht.

Auch für Obertshausen und Hausen  gelten diese Voraussetzungen natürlich, das heißt, in der Gemarkung wurden einige Funde gemacht, die von menschlicher Anwesenheit in früherer und frühester Zeit künden. Dabei fällt ins Auge, dass – insbesondere im direkten Vergleich mit der Mühlheimer Gemarkung – in Obertshausen, das gilt für beide Stadtteile, ein auffällig geringer Fundbestand zu vermerken ist.

Hierfür bieten sich verschiedene Erklärungsansätze: Möglicherweise war die „Obertshausener Wohnlage“ in früherer Zeit nicht so attraktiv, wie das etwa heute der Fall ist; im Laufe der Zeit wurde ein wesentlicher Anteil möglicher Funde zerstört; die Obertshausener Erde verbirgt noch einen ungeahnten Fundreichtum. Eine Entscheidung in dieser Frage zu treffen, dürfte schwerfallen, wenngleich die eher mäßige Bodenqualität ein Grund dafür sein könnte, dass die frühen Bauern fruchtbarere Regionen bevorzugten. Allerdings gibt es auch aus früher Bauernzeit Artefakte, die darauf deuten, dass bereits in dieser Zeit Menschen den Boden am Ort bearbeiteten. Vermutlich wird die Antwort auf die Frage nach der eher geringen Menge an Bodenfunden aus einer Kombination der drei oben angedeuteten Möglichkeiten bestehen.

Eine erstaunlich asymmetrische Situation zeigt sich, wenn die Verteilung von Funden und Befunden auf die beiden Stadtteile ins Auge gefasst wird. Ohne vorsichtiges Infrage stellen der Ergebnisse würde der Schluss naheliegen, dass die Menschen der Vorgeschichte sich im Stadtteil Hausen wohler gefühlt hätten, als in Obertshausen. Das kann natürlich mit Sicherheit nicht der Fall gewesen sein. Es müssen also andere Gründe vorliegen, von denen einer im Verlauf der Rodau zu suchen sein mag. Im Übrigen gelten natürlich auch für dieses Phänomen die beiden anderen Punkte des obigen Deutungsrasters.

Bis dato11) ist der einzige, allerdings bedeutende, Fund in Obertshausen ein bronzenes Lappenbeil, das aus der Zeitstufe der Urnenfelderkultur, also des jüngsten Abschnittes der Bronzezeit, stammt. Dieses wurde im Gewann „Leimenkaute“, in der Nähe des Lohwaldes gefunden, es befindet sich im Besitz des Offenbacher Vereins für Naturkunde.12) Wenn es sich bei dem Fund nicht um ein Einzelstück handelt, das – möglicherweise beim Holzeinschlag – verloren wurde, spricht einiges dafür, dass zumindest noch urnenfelderzeitliche Funde im Stadtteil Obertshausen zu erwarten wären.

Natürlich sollen die Funde aus der Burg im Hain an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben, die allerdings aus einer Phase menschlicher Entwicklung stammen, die aufgrund des Vorhandenseins schriftlicher Quellen als geschichtlich bezeichnet wird, und in diesem Abschnitt, der sich mit der Besiedlung unserer Region in einer Zeit, die noch nicht durch Schriftlichkeit erhellt wird, unberücksichtigt bleiben muss.

Im Stadtteil Hausen sieht die Lage, wie oben bereits angedeutet, besser aus. Auch ist hier die zeitliche Streuung der Funde wesentlich ausgedehnter, was zumindest eine gewisse Kontinuität der Besiedlung der Hausener Gemarkung vermuten lässt. Die Funde aus Hausen reichen von alt- oder mittelsteinzeitlichen Artefakten bis zu Funden aus der „Hallstatt“- und „Laténezeit“, also bis in die vorrömische Eisenzeit.13)

Die ältesten Hinweis auf die Anwesenheit von Menschen im Hausener Gebiet liegen in Form von Steingeräten vor, die im „Hohlweg“ als sogenannte Lesefunde – also Oberflächenfunde, die ohne Grabungstätigkeit vom Boden aufgelesen wurden – gemacht wurden. Dies stammen ihrer Form nach aus dem „Jungpaläolithikum“ – also der jüngsten Phase der Altsteinzeit – oder dem „Mesolithikum“, der unmittelbar anschließenden, Mittelsteinzeit genannten, Epoche. Der unterschiedliche Datierungsansatz kommt deshalb zustande, weil solche Einzelfunde, noch dazu Steinwerkzeug, ohne deutlich Befundlage – also weitere Funde, die eine genauere Aussage ermöglichen- zeitlich schwer genau einzuordnen sind.14)

Das ist bei den Keramikfunden aus der „Steinkaute“, bzw. dem „Steinkautenweg“ einfacher, da dies sich anhand einer Scherbe mit typischer Henkelöse recht eindeutig in die älteste Jungsteinzeit, die „Bandkeramik“ einordnen lassen. Diese Funde wurden bereits im Jahre 1957 gemacht, der Fundkomplex besteht aus 63 unverzierten Wandscherben, sechs Henkelösenbruchstücken, einer kompletten Henkelöse, einem Randstück und einem Wandstück mit deutlich erkennbarem Halsknick.15)

Überdies fanden sich auf Hausener Gebiet Keramikbruchstücke, die sich nicht eindeutig einer bestimmten vorgeschichtlichen Epoche zuordnen lassen. Zeitlich ebenfalls unbestimmbar sind deutlich erkennbar Bodenverfärbungen, die möglicherweise auf vorgeschichtliche Siedlungsgruben oder ähnliches hindeuten, allerdings auch moderneren Ursprungs sein könnten.

Deutlich zeitlich einzuordnen sind allerdings die Funde aus dem Bereich „Mäusehügel“, die sich anhand des Fundmaterials in die „Urnenfelderzeit“ – erinnert sei an dieser Stelle auf das Lappenbeil aus Obertshausen sowie die „Hallstattzeit“, den älteren Abschnitt der vorrömischen Eisenzeit, datieren lassen. Insbesondere für die Urnenfelderzeit wie für die Bronzezeit allgemein – gilt, dass die wichtigen hessischen Funde für diese Perioden aus Gräbern stammen, was die Bandbreite der Interpretationen natürlich einschränkt. Hallstattzeitliche Siedlungen sind etwas besser erforscht, wenngleich auch hier noch große Forschungslücken konstatiert werden müssen.16)

Deutlich eisenzeitlich sind die Funde aus den Grabhügeln der Gruppe „Seipelsee“, die sowohl ältereisenzeitliche Funde als auch Stücke aus der „Laténezeit“, der jüngeren Eisenzeit also, deren Bevölkerung mit den Kelten identifiziert wird, bargen.17) Ein Hügel wurde unter der Leitung des damaligen Kreisbodendenkmalpflegers Klaus Ulrich ergraben. Aus der keltischen Zeit stammt ein Halsreiffragment, weiterer Bronzeschmuck sowie Keramik. Diese Funde entstammen einer Bestattung, die als sogenannte Nachbestattung im bereits bestehenden Grabhügel erfolgte.

Als eigentliche Bestattungen wurden zwei hallstattzeitliche Körpergräber im Zentrum des Hügels gefunden, wobei es sich um die Gräber von einem Mann und einer Frau handelte. Dem Mann wurden neben der typischen graphitverzierten Keramik zwei Eisenmesser sowie bronzenes Toilettenbesteck beigegeben. Das Frauengrab enthielt neben Keramikresten auch Schmuck, einen Bronzearmring, zwei Bronzebeinringe sowie sieben Bernsteinperlen. Keramik im Randbereich des Hügelbodens deutet überdies darauf hin, dass der Grabhügel im Randbereich einer – danach vermutlich aufgelassenen – Siedlung errichtet wurde.

 

 

Anmerkungen:

1)         A. Czarnetzki, Belege zur Entwicklungsgeschichte des Menschen in Südwestdeutschland, S. 217ff.

2)         F. R. Herrmann/A. Jockenhövel, Die Vorgeschichte Hessens, S: 74ff.

3)         H. Gries, Frühe Spuren, S. 43ff.

4)         F. R. Herrmman/A. Jockenhövel, Die Vorgeschichte Hessens, S.121ff.

5)         F. R. Herrmann/A. Jockenhövel, Die Vorgeschichte Hessens, S. 187ff.

6)         F. R. Herrmann/A. Jockenhövel, Die Vorgeschichte Hessens, S. 195ff.

7)         F. R. Herrmann/A. Jockenhövel, Die Vorgeschichte Hessens, S. 244ff.

8)         F. R. Herrmann/A. Jockenhövel, Die Vorgeschichte Hessens, S. 261f.

9)         R. Günther, Die Römer an Rhein und Donau, S. 32ff.

10)       G. Hoch, Geschichte der Main-Rodgau-Landschaft von der Römerzeit bis zur Entstehung des Kreises Offenbach, S. 3

11)       Stand ist der April 1993

12)       F. R. Herrmann, Urnenfelderkultur, S. 190; HB 26.3.1971

13)       vgl. die Ortsakte Obertshausen-Hausen der Kreisbodendenkmalpflegeabteilung in Offenbach

14)       vgl. die Ortsakte Obertshausen-Hausen der Kreisbodendenkmalabteilung in Offenbach

15)       K. Nahrgang, Die Bodenfunde, S. 38

16)       vgl. die Ortsakte Obertshausen-Hausen der Kreisbodendenkmalabteilung in Offenbach

17)       Fundberichte aus Hessen, 15 (1975), S. 524ff.

Die Zeit der Völkerwanderung

Nach den vorgeschichtlichen Perioden der Stein-, Bronze- und Eisenzeit gewinnt der historische Ablauf mit der Völkerwanderungszeit eine vollkommen neue Qualität. In dieser Epoche vollzieht sich der Übergang von vorgeschichtlichen zu frühgeschichtlichen Zeiträumen, die schließlich in der Periode münden, die wir als „geschichtlich“ bezeichnen. Dabei gilt es, sich vor Augen zu halten, dass diese Bezeichnungen nicht die Realität der Ereignisse widerspiegeln – geschichtliches Geschehen findet letztlich immer statt, wenn Menschen leben – sondern lediglich Bewertungskriterien aus der Sicht der heutigen Forschung darstellen.

„Vorgeschichte“ ist dementsprechend die Summe derjenigen Ereignisse, über die uns lediglich Bodenfunde Auskunft geben können, für die es also keinerlei schriftliche Überlieferung gibt, von „Frühgeschichte“ wird dann gesprochen, wenn neben die Bodenfunde ergänzend indirekte schriftliche Zeugnisse treten – für Germanen und Kelten wären dies etwa die Berichte griechischer und römischer Historiker – und „Geschichte“ wird – mehr oder minder vollständig – durch schriftliche Quellen überliefert, die von der zu untersuchenden Menschengruppe selbst stammen. Die Tatsache jedoch, dass archäologische Methoden mittlerweile immer mehr auch auf Zeiträume angewendet werden, die eigentlich als „historisch“ im Sinne der obigen Einteilung gelten, deutet an, wie fließend diese Bewertungskriterien in Wirklichkeit sind.1)

Dies gilt letztlich auch für die sogenannte „Völkerwanderungszeit“, die präzise als „germanische Völkerwanderungszeit“ zu bezeichnen wäre, da Völkerwanderungen nahezu eine Konstante menschlicher Existenz darstellen, die es vor der hier gemeinten Völkerwanderung ebenso gab, wie es sie heutzutage – die millionenstarken Flüchtlingsströme sind letztlich ebenfalls eine Art  Wanderungsbewegung – immer noch gibt.

Nicht die Permanenz dieses Phänomens ist allerdings an dieser Stelle zu beachten, sondern die Tatsache, dass mit dem Phänomen dieser Völkerwanderung Veränderungen im frühgeschichtlichen Bevölkerungsbild Mitteleuropas und damit auch unseres Heimatraumes – einhergingen, die das Bild unseres Kontinentes bis heute geprägt haben. Das gilt umso mehr, als seither keine Umstrukturierung der Bevölkerung in wesentlichem Umfang mehr stattgefunden hat, diese sich seither prinzipiell in ihrer Zusammensetzung nur unwesentlich geändert hat.

Datierungsfragen sind an dieser Stelle insoweit zu vernachlässigen, als sie zur Beantwortung unserer Fragestellung nur sehr wenig beitragen. Für unser Gebiet ist es wichtig, darauf zu verweisen, dass den Niedergang der Kelten begleitend und sicherlich auch mitverursachend um etwa 50 v. Chr. germanische Scharen, die wir vermutlich wenig später unter dem Namen der „Chatten“ genauer benennen können, auch in das Rhein­Main-Gebiet eindrangen. Um die Zeitenwende erfolgten erste römische Vorstöße. In flavischer Zeit, also ab etwa 70 n. Chr. wurde im Zuge der römischen Expansion auch das Rhein-Main-Gebiet in das Imperium eingegliedert. Bis auf gelegentliche chattische Vorstöße in die Wetterau war dies eine relativ ruhige Zeit.2)

Eine Änderung der Verhältnisse trat erst im beginnenden dritten nachchristlichen Jahrhundert ein. Unter dem Namen „Alamannen“– auch unter der Bezeichnung „Alemannen“ bekannt – hatte sich aus verschiedenen vorher existierenden germanischen Stämmen eine Art Großverband gebildet, dessen Angehörige in ihrer Selbstbezeichnung auch ein gutes Stück „Programmatik“

zur Schau trugen. Diese Bezeichnung als „Alle Männer“ auch für uns heutzutage noch sehr leicht in ihrer Bedeutung erkennbar – birgt das Selbstbewusstsein eines durchaus kriegerisch bestimmten Zusammenschlusses von Menschen, die sich vor allem auf dem Gebiet der Kampfstärke den Römern als durchaus ebenbürtig empfanden. Dieses Selbstbewusstsein bewiesen alamannische Verbände im Jahre 260 n. Chr., als sie den Limes überrannten.3)

Damit sind auch für unseren Raum Prozesse in Gang gesetzt, die in ihrer Entwicklung letztlich dahin führen, was wir als christliches Europa zu bezeichnen gewohnt sind. Das Ende der Völkerwanderungszeit sieht zumindest bereits diejenigen germanischen Völker, die späterhin in einer deutschen Nation zusammenschmelzen werden, in ihren Wohnsitzen. Der Weg ins eigentliche Mittelalter und in die Neuzeit hinein ist geebnet.

Allerdings ereignete sich noch einiges, bis es zu dieser Konstellation gekommen ist. Die Dominanz des alamannischen Verbandes wurde zunächst durch andere germanische Stämme in deren Rücken gefährdet. Bündnisse wurden mit- und gegeneinander geschlossen und noch lange konnten die geschickten Taktiker des römischen Imperiums die Erhaltung des Reiches dadurch sichern, dass sie die anstürmenden Barbaren gegeneinander ausspielten.

Neben den – letztlich eher bodenständigen – Alamannen wurde unser Raum von den mit diesen verfeindeten „Burgunden“ durchzogen, deren Expansionsdrang zunächst zu einer Reichsbildung um Worms und schließlich zum Ende des Volkes führte – sie waren den Römern offenkundig zu mächtig geworden. Dass am Untergang der Burgunden hunnische Truppen mitwirkten, zeigt, dass auch dieses Reitervolk wahrscheinlich unser Gebiet zumindest gestreift hat, hatte aber vor allem zur Folge, dass das Ende des burgundischen Reiches fälschlicherweise mit Attila in Verbindung gebracht wurde. In dieser Verknüpfung erlangten die Burgunden als Protagonisten des Nibelungenliedes späten literarischen Ruhm. Ein weiteres bedeutendes germanisches Volk, was die Rhein­Main-Region mit Sicherheit berührte, waren die „Vandalen“, die auf ihrem Wanderweg, der letztlich in Afrika endete, unsere Region durchquerten um anschließend über Gallien und Spanien weiterzuziehen.4)

Während also die Alamannen auch eine Konstante in der Besiedlung mit sich brachten, waren die beiden anderen Völker – Burgunden und Vandalen – für unseren Raum nur eine Episode. Ein anderes Volk war allerdings noch wesentlich erfolgreicher, als es die Alamannen waren die Rede ist von den „Franken“. Auch diese waren, ähnlich wie die Alamannen, ein Zusammenschluss kleinerer Völkerschaften, die vorher selbständig waren und sich teils freiwillig, teils gezwungen – zu einer größeren Einheit zusammenschlossen.

Es wurde an dieser Stelle zu weit führen, die verschiedenen Mechanismen der Stammesbildung im Einzelnen abzuhandeln. Kurz sei allerdings angemerkt, dass es sowohl den freiwilligen Anschluss an ein mächtigeres Volk gab, als auch die aufgrund militärischer Niederlagen erzwungene Unterwerfung. Es steht zu vermuten, dass die Ethnogenese der Franken zunächst eher nach dem ersten Muster erfolgte, während die steigende Kriegsmächtigkeit es im Laufe der Zeit ermöglichte, dass unterworfene Völker in den Verband der Franken zwangseingegliedert wurden.

Damit ist bereits die Komplexität der Geschehnisse angedeutet, die mit der Entwicklung der Franken zu einem Großstamm verbunden war. In römischen Quellen taucht der Frankenname erstmals um die Mitte des dritten nachchristlichen Jahrhunderts auf – etwa zeitgleich mit dem der Alamannen. Ebenfalls eine Parallele zu den Alamannen stellt die Selbstbezeichnung als „Franken“ dar, was so viel wie die „Frechen“ im Sinne von Tapferen bedeutet. Eine mehr oder minder kontinuierliche Entwicklung führte die Franken schließlich zu weltgeschichtlicher Bedeutung. Allerdings führte dieser Weg zunächst von den fränkischen Kerngebieten im Mosel-Rhein-Gebiet nach Westen. Die  erste herausragende Herrscherdynastie der Franken waren seit dem fünften Jahrhundert die „Merowinger“, unter deren bedeutendstem Vertreter, Chlodwig, das fränkische Herrschaftsgebiet sowohl nach Osten als auch – auf Kosten der Alamannen – nach Süden ausgeweitet wurde. Infolge der fränkischen Südexpansion wurde der alamannische Siedlungsraum zunächst eingeschränkt, bis schließlich die Alamannen in direkte Abhängigkeit von den Merowingern gerieten.5)

Die – oft mit unbeschreiblicher Grausamkeit ausgetragenen – innermerowingischen Auseinandersetzungen hatten schließlich einen Machtschwund dieser Königssippe zur Folge. Die Schwächung der königlichen Stellung führte dazu, dass die bedeutendste fränkische Herrscherfamilie, die nach ihrem wichtigsten Vertreter benannten Karolinger, seit Beginn des achten Jahrhunderts bis zu ihrem Niedergang knapp dreihundert Jahre später die Macht im fränkischen Reich hatten. Die für den weiteren Verlauf der europäischen Geschichte höchst bedeutsamen Leistungen unter der karolingischen Herrschaft sind schwerlich zu überschätzen. Merowingische Ansätze wurden fortgeführt, das fränkische Reich nach Osten hin erweitert und schließlich erfolgte eine Teilung in ein ost-und ein westfränkisches Reich, eine Entwicklung an deren Ende Frankreich und Deutschland stehen.6)

Für unseren Raum hatten die Aktivitäten der wandernden Alamannen und Franken vor allem die Konsequenz, dass es zur Gründung von Siedlungen kam, die es zum Teil noch heute gibt. Aufgrund der großen Verbreitung  von Ortsnamen mit dem Suffix; „-ingen“ im alemannischen Sprachraum, wurden diese von der älteren Forschung durchweg als alamannische Gründungen angesehen. In unserer Nachbarschaft wäre demnach Sprendlingen durch seinen  Namen als alamannische Siedlung gekennzeichnet.

Mittlerweile hat sich die Diskussion etwas verlagert. Einhelligkeit besteht jedoch darüber, dass
„-ingen“-Orte ein hohes Alter haben.7) Die erste fränkische Besiedlungswelle unter den Merowingerkönigen lässt sich mit solchen Namen in Verbindung bringen, die auf -heim enden; Mühlheim ist ein Beispiel in unserer unmittelbaren Nachbarschaft. Ortschaften mit „Hausen“­ Namen schließlich gehören einer zweiten fränkischen Besiedlungsphase an, die sich mit dem internen Landesausbau unter den Karolingern im 8. und 9. Jahrhundert in Verbindung bringen lässt.8)

Mit den späten Merowingern und erst recht den Karolingern jedoch ist der Zeithorizont verlassen, der gewöhnlich als „Völkerwanderungszeit“ bezeichnet wird. Mit der Konsolidierung der ethnischen Verhältnisse und des Herrschaftsgefüges ist eine Epoche erreicht, die durch den Begriff des „Frühen Mittelalters“ bezeichnet wird. Damit wird gleichzeitig der Bereich der nur indirekt schriftlichen „Frühgeschichte“ verlassen und die durch die – zumindest in großen Teilen – volle Schriftlichkeit beleuchtete „Geschichte“ erreicht.

Anmerkungen:

1)      vgl. etwa A. Mongait, Archäologie und Gegenwart, S. 7ff.

2)      F. R. Hermann/A. Jockenhövel, Vorgeschichte Hessens, S. 295ff.

3)      R. Christlein, Die Alamannen, S. 22ff.

4)      R. Günther/A. R. Korsunskij, Germanen erobern Rom, S. 79ff.; S. 93ff.

5)      R. Schneider, Das Frankenreich, S. 12ff.

6)      R. Schneider, Das Frankenreich, S. 23ff.

7)      A. Bach, Deutsche Namenkunde, Bd. I I,2, S. 315ff.; E. Schwarz, Deutsche Namenforschung, Bd. II, S. 122ff.

8)      Bach, Deutsche Namenkunde, Bd. I I,2, S. 366ff.; E. Schwarz, Deutsche Namenforschung, Bd. II, S. 158ff.